SWR2-Interview zum Internationalen Kindertag: Kinder in der Ukraine

01.06.2023 | Presse

Hand angemalt mit ukrainischen Farben

Zum Internationalen Kindertag am 1. Juni 2023 wurde der Gründer und Vorsitzende der Geschäftsführung des KRF Üwen Ergün in der Sendung „SWR2 am Morgen“ durch den Moderator Wilm Hüffer interviewt. Das Thema: die Kinder in der Ukraine und die Folgen des Krieges für sie und ihre Familien. Besonders steht die Frage im Mittelpunkt, inwiefern sich die UN-Kinderrechtskonvention in dieser Situation umsetzen lässt und wie denn ganz konkret geholfen werden kann.


Wilm Hüffer (SWR2): Sie hören SWR 2 am Morgen. Heute am Weltkindertag müssen wir über Kinder in der Ukraine sprechen, daran führt kein Weg vorbei. Es ist auch ihr Leben, das in diesem schrecklichen Krieg zerstört wird. Knapp 500 Kinder sind bereits tot, etwa 1.000 wurden bislang verwundet. 1.500 ukrainische Kinder sind inzwischen Waisen. Russland hat etwa 20.000 Kinder verschleppt. Und traumatisiert von diesem Krieg sind etwa 1,5 Millionen schätzt das UN-Kinderhilfswerk UNICEF. Sie können nicht mehr schlafen, bekommen Angst, wenn sie Sirenen hören, sind depressiv. Jede einzelne Geschichte ist eigentlich zum Heulen. Darüber spreche ich jetzt mit Üwen Ergün vom Netzwerk Kinderrechte und Vorsitzender der Geschäftsführung beim KinderRechteForum. Ich grüße Sie. Hallo, Herr Ergün!

Üwen Ergün (KRF): Ja, hallo, guten Tag, Herr Hüffer.

Minute 0.46

Wilm Hüffer (SWR2): Das Netzwerk Kinderrechte verfolgt das Ziel, die UN-Kinderrechtskonvention umzusetzen. Kinder haben beispielsweise ebenso universelle Rechte wie Erwachsene. Sie haben ein Recht auf Bildung, darauf, ohne Gewalterlebnisse aufzuwachsen. Das muss man nicht sagen, aber im Krieg sind es die Kinderrechte, die auch als erstes hinten runterfallen.

Üwen Ergün (KRF): Ja, da haben Sie einen ganz wichtigen Punkt auf die Agenda gebracht. Das ist tatsächlich so, dass natürlich die Kinderrechte in einer so akuten Krisensituation ganz weit hinten rüber fallen. Gleichwohl muss man natürlich auch sagen, dass viel getan wird, um da die Folgen des Krieges letztendlich auch abzumildern und zumindest ein bisschen die Kinder zu ihrem Recht zu bringen. Also, Stichwort: Schule im Bunker und so weiter. Das sind ja die Geschichten, die wir auch immer wieder hören und erzählt bekommen in den Medien.

Minute 1.35

Wilm Hüffer (SWR2): Das schlimmste Verbrechen in diesem Krieg neben dem Töten unschuldiger Zivilisten ist ja vermutlich die Verschleppung von Kindern von der Ukraine nach Russland und offenbar auch nach Belarus. Was können die Staaten und Hilfsorganisationen eigentlich tun, um dieses Unrecht zu beenden?

Üwen Ergün (KRF): Ja, das ist eine Frage, die beschäftigt mich tatsächlich täglich. Die ist wirklich schwierig zu beantworten. Und ich glaube, jetzt akut können wir nur tun, was in unserer Macht steht, nämlich versuchen, den Menschen zu helfen, da wo es geht. Das heißt, den Menschen, die hier in Deutschland ankommen, Hilfe zu leisten und gleichzeitig natürlich auch in der Ukraine zu gucken, dass es den Menschen einigermaßen gut geht unter den Umständen.

Minute 2.13

Wilm Hüffer (SWR2): Aber wenn ich Sie richtig verstehe, dann ist, diese Kinder, die nach Russland verschleppt worden sind, eines Tages zurück zu ihren Eltern zu bringen, wahrscheinlich eine Puzzle-Arbeit, die die Zusammenarbeit mit einer russischen Zivilgesellschaft erfordern würde, mit Behörden, die dann wiederum zu einer Kooperation bereit sind. Sonst ist das wahrscheinlich gar nicht zu lösen …?

Üwen Ergün (KRF): Genau, auf jeden Fall richtig. Und ja, das ist auch etwas, das kinderrechtlich ein Riesenproblem ist. Denn klar, Kinder haben ein Recht auf ihre Eltern. Das Problem aber bei der UN-Kinderrechtskonvention und auch anderen Menschenrechtsverträgen ist, dass es sozusagen keine Konsequenzen gibt, wenn diese Verträge gebrochen werden. Es gibt zwar Konsequenzen auf politischer Ebene, dass man halt sagt, da wird ein Verstoß begangen – in ganz schlimmen Fällen kann man natürlich vor dem Menschenrechtsgerichtshof verurteilt werden –, aber man kommt als russische Regierung nicht dafür ins Gefängnis, wenn man solche Schandtaten begeht. Und das ist glaube ich ein Riesenproblem und auch ein Fehler im System. Also dass es keine direkte Konsequenz gibt. Das ist nicht wie ein Ladendiebstahl, wo man dann direkt auch eine Strafe zu befürchten hat.* (Anmerkung der Redaktion, siehe unten).

Minute 3.20

Wilm Hüffer (SWR2): Abschließend vielleicht noch ein Blick auf die Zivilgesellschaft. Was kommt auf die zu, wenn es darum geht, die Traumata dieses Krieges zu verarbeiten – von denen ja auch Kinder massiv betroffen sind. Sie dann psychologisch zu betreuen, ihnen neue Zuversicht zu geben … Was muss da geschehen?

Üwen Ergün (KRF): Ja, da kann ich ganz gut aus eigener Erfahrung sprechen. Wir hier beim KRF, also KinderRechteForum, betreiben ja eine bundesweite Ombudsstelle zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention und auch eine Hilfeplattform – „helpando“ heißt die – für Kinder und Jugendliche zum Thema Kinderrechte. Und genau da machen wir das. Also, wir arbeiten mit den Kindern und Jugendlichen insbesondere pädagogisch-psychologisch und versuchen eben auch, unser Wissen in die Zivilgesellschaft weiterzugeben: Wie kann man mit Traumata und so weiter umgehen? Das ist eine sehr, sehr komplexe Arbeit, die sehr, sehr schwierig ist. Es braucht dafür auf jeden Fall Fachpersonal. Da habe ich auch ganz große Bauchschmerzen, dass man das hinbekommt, genügend geschulte psychologische Fachkräfte zu haben, die dann eben mit diesen traumatisierten Kindern arbeiten können und dafür sorgen, dass es ihnen dann auch wieder so gut geht, dass sie dann ein Leben nach dem Krieg sozusagen beginnen können. Ich glaube am Ende des Tages ist es so: Es wird dann halt bei diesen Menschen zwei Kapitel geben, naja, eigentlich drei: ein Leben vor dem Krieg, während des Kriegs und nach dem Krieg. So muss man sich das halt irgendwie vorstellen. Man muss es dann schaffen, die Menschen so zu unterstützen, dass sie eben mit diesen unterschiedlichen Ereignissen ganz gut umgehen können in ihrem Alltag und die auch zurücklassen können – also bewusst umgehen, aber gleichzeitig auch zurückstellen können – und sagen: Jetzt gucke ich nach vorne und kümmere mich darum, dass mein Leben in geregelten Bahnen läuft, weil ich froh bin, dass ich lebe letztendlich.

Minute 5.00

Wilm Hüffer (SWR2): Aber dieses Leben nach dem Krieg, das darf man unterstellen, auch das wird eine Daueraufgabe sein und keineswegs einfach, da in ein neues Leben zurückzufinden.

Üwen Ergün (KRF): Auf jeden Fall. Das erfordert eine dauerhafte psychologische Begleitung letztendlich. Das ist etwas, das wir dann hier in Deutschland auch erleben mit den Kindern und Jugendlichen von Familien, die eben aus diesen Kriegsgebieten kommen. Es gibt natürlich auch andere Wege, wie diese Ereignisse verdrängt werden. Wir haben ganz viele Jugendliche, die sich bei uns melden und sagen: Meine Eltern, die trinken, und zwar ohne Ende, damit sie das alles vergessen. Also, das ist eine Geschichte, die gibt’s immer wieder. Die spielt sich immer wieder ab. Und das sorgt dann natürlich am Ende auch für andere Probleme. Also, auch wenn sich die Familie jetzt hier in Deutschland in Sicherheit aufhält, ist das natürlich wieder ein anderes Problem, was dadurch entsteht. Das heißt, wir dürfen diese Menschen nicht alleine lassen. Wir müssen eigentlich dafür sorgen, dass wir sie bestmöglich unterstützen.

Wilm Hüffer (SWR2): Üwen Ergün war das vom Netzwerk Kinderrechte in SWR 2 am Morgen am heutigen Weltkindertag. Und zur Gewalt, die Kinder im Krieg in der Ukraine täglich erleiden. Herr Ergün, ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch.

Üwen Ergün (KRF): Ja, ich danke Ihnen auch Herr Hüffer, schönen Tag!

*Anmerkung der Redaktion: Ergänzt werden können hier die Haftbefehle des internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, die gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und seine Kinderrechtsbeauftragte Marija Lwowa-Belowa erlassen wurden und die eine Haftstrafe nach sich ziehen könnten, sollten die beiden vor dem Gerichtshof verurteilt werden. Dafür ist es allerdings notwendig, dass diese beiden Personen auch vor dem Strafgerichtshof erscheinen - was Experten als sehr unwahrscheinlich ansehen. Die Konsequenzen aus völkerrechtlichen Abkommen, auf die an dieser Stelle eingegangen wird, sind im Vergleich nochmal deutlich schwerer umzusetzen.